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FB0231 Auschwitz
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FB0231 Auschwitz

Über Auschwitz

Der 18. August des Jahres 2023 ist in Krakau, Polen, ein brütend heißer Tag. Wir sind nur dreieinhalb Tage hier, hatten aber dennoch fest eingeplant, diesen besonderen Ort zu besuchen. Er passt so gar nicht in unser sonstiges Besuchsprogramm, denn eigentlich sind wir hier, um die Stadt zu sehen und sie inklusive ihres Nachtlebens zu erleben. Oder anders ausgedrückt: Wir sind hier, um Kultur und Leben zu erkunden. Der heutige Ausflug wird sich hingegen mit barbarischer Unkultur und dem Tod beschäftigen, ausnahmslos. Wir werden heute nicht mehr feiern gehen. Das ahnen wir, als wir den gut eineinhalb Kilometer langen Fußweg vom Bahnhof antreten, zwar bereits, die Heftigkeit des heutigen Erlebnisses wird uns dennoch überraschen.

Wir hatten bereits vor unserer Reise beschlossen, dass wir uns heute die kurze Hose sparen und uns ein wenig würdevoller und weniger touristisch kleiden, als die anderen Tage. Die Sonne brennt heute ziemlich heiß und bei diesem Wetter in sengender Sonne eine knappe halbe Stunde ohne viel Schatten zu Fuß zu gehen ist etwas, dass wir uns normalerweise ganz gespart hätten.

In urlaubsmäßig knappen Klamotten wäre dieser Ausflug schon anstrengend genug gewesen. Aber heute erinnert uns die teilweise selbst herbeigeführte Unbequemlichkeit nur daran, dass, so unangenehm uns der Weg gerade auch erscheinen mag, es ein Witz gegen das gewesen ist, was andere hier millionenfach erlebt haben. Und so wird der Fußmarsch zum staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau bereits Teil des Gesamteindrucks. Wir haben noch nichts gesehen und denken trotzdem unweigerlich bereits an das größte Verbrechen, das Menschen jemals begangen haben.

Wir sind freiwillig hier. Wir haben uns bewusst dazu entschieden - und wie uns an unserem Ziel schon der einleitende kurze Film erklärt, ist das keine Selbstverständlichkeit und uns steht kein leichter Tag bevor, so sagt uns und jedem, der diesen Ort besucht, dieser Film. Ein Museum, das vor sich selbst warnt.

Uns erschreckt das nicht so sehr, wie es vielleicht sollte. Wir sind alle geschichtlich interessiert und haben viel über diesen Ort gehört. Wir wissen schon bei der Anreise, dass es sehr wahrscheinlich der schlimmste Ort ist, den man jemals besuchen kann. Wir sind mental vorbereitet. Denken wir.

Drei Stunden später stehen wir vor einer absurd niedrigen Baracke. Die ganze Gruppe ist fertig mit der Welt. Einige wollten die Führung vorher abbrechen und wurden von der Historikerin relativ strikt zurückgepfiffen: Hier darf sich niemand unbeaufsichtigt bewegen, auch nicht, wenn es ihm zu viel wird.

Die Führung endet auf einem Gelände, das in jeder Richtung endlos scheint und nur von Stacheldraht und Bahngleisen eingefasst wird.

Jeder von uns hat absolut alles hier schon in vielen Stunden von Dokumentationen gesehen, in der Schule gelernt, von Hollywood mundgerecht präsentiert bekommen. Den Berg Menschenhaar, Gebirge aus Schuhen und Koffern. Die Steh-Zellen, in denen Menschen so lange stehend eingesperrt wurden, bis sie einfach nicht mehr lebten. Die Mauer, an der Zehntausende Menschen erschossen worden waren. Die Gaskammern, die nur die kleine Version der zur Vertuschung kurz vor dem Ende zerstörten echten Vernichtungsstätten gewesen sind und wo man das Prinzip der brutalst effizienten Massenvernichtung in heute unglaublicher Kaltschnäuzigkeit an hunderten ausprobierte, bevor man das Konzept hochskalierte und etwas schuf, bei dem sich der Begriff Mordfabrik aufdrängt.

Uns war klar, dass die Realität härter sein würde, als was wir bisher über diesen Ort wussten. Das bestätigt sich bereits im ehemaligen Stammlager. Gebaut als Kaserne, umgewidmet zum Gefängnis, erweitert zum Lager.

Und als Vollendung des Wahnsinns schließlich ergänzt durch Auschwitz-Birkenau, dem Vernichtungslager. 80-90% derjenigen, die damals hier ausstiegen, lebten höchstens noch Stunden. Und das auch nur, weil der weitere Weg in den Tod zu Fuß zurückgelegt werden musste. Wir sind zu fünft. Statistisch hätte mit “Glück” nur einer von uns den Hauch einer Chance gehabt, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben. Nur, um jeden weiteren Tag in der Hölle aufzuwachen, ungewiss, ob er die nächste Stunde noch überleben würde oder ob er durch die absichtlich miserablen Lebensbedingungen, die buchstäblich mörderische Arbeit im Lager oder schlicht der sadistischen Willkür jener Barbaren, die sich “Herrenrasse” nennen, umkommen würde, wie jeden Tag hunderte.

Wir sind fertig von dem langen Marsch, von der Länge des Tages bisher, von den Ungeheuerlichkeiten, die wir uns in den letzten Stunden angehört haben. Von den kaum zu verkraftenden visuellen Eindrücken, die uns den Rest unseres Lebens nicht mehr loslassen werden.

Die Berge an Taschen und Gebrauchsgegenständen, die man uns zeigt, sind größer, als die Baracken im Lager. All diese Dinge, die die Leute freiwillig ablegten. Packt das gut weg, merkt euch den Haken, an den ihr alles hängt, dann findet ihr es wieder, hat man ihnen gesagt. Und dann in die “Dusche”. Zu hunderten, zu tausenden gleichzeitig. Während des kurzen Todeskampfes fingen andere Häftlinge bereits an, die letzten Habseligkeiten der Ermordeten zu sortieren, damit alles verwertet werden konnte. Damit diese Mordfabrik auch ökonomisch blieb.

Wir sehen einen mehrere Meter hohen Haufen aus menschlichen Haarbüscheln. Jedes Büschel war einmal ein Mensch.

Wir sehen den Haufen an Kinderschuhen. Meterhoch. Nur Kunderschuhe.

Diese heute noch sichtbaren Überbleibsel von unwirklichen Ausmaßen werden noch unwirklicher, wenn man sich klarmacht, dass sie nur winzigster Teil, nur der nicht rechtzeitig fortgeschaffte oder vernichtete Rest sind. Sie stehen nur stellvertretend für eine viel, viel größere Menge, die unseren Verstand sprengt.

Und sie stehen für ein Verbrechen, das jeder Beschreibung spottet. Für eine Tat, über die wir alles zu wissen glaubten. Aus der Schule, aus tausend Fernsehdokumentationen, aus dem kollektivem Gedächtnis.

Wir dachten, wir wissen schon alles. Jetzt stehen wir davor und können nicht fassen, was wir dachten, dass wir wissen. 90 Menschen in einem winzigen Wagon. 1000 Menschen in einer Baracke. Und die, die man so zusammengepfercht waren bereits die, die eine Chance hatten. Eine lächerlich winzige Chance.

Keiner von uns will hier sein. Wir haben uns frei entschieden, es trotzdem zu sehen. Die Führung endet in Birkenau und jeder kennt das berühmte Torhaus, das so sehr für Auschwitz steht wie der “Arbeit macht frei”-Schriftzug über dem Tor im Stammlager. Doch dass man vom Torhaus aus so weit das Auge reicht, nichts als Lager sieht und das auch das war, was die Häftlinge sahen, ist einer der Eindrücke, die sich nur vor Ort erleben lassen und die die Monstrosität des Verbrechens drastisch in unsere Köpfe hämmern.

Wir sind freiwillig hier. Eine Million Menschen wurde dazu gezwungen. Fast keiner von ihnen hat es überlebt.

Wir stehen im ultimativen Abgrund der Menschheit. Kein Ort auf der Welt kann auch nur ansatzweise so grausig ist, wie dieser.

Zum Zeitpunkt meines Besuches im Jahr 2023 ist es achtzig Jahre her, dass dieser Wahnsinn in die Tat umgesetzt wurde. Am Tag, an dem ich aus meinen damaligen vagen Notizen diesen Text verfasse, ist die Befreiung des Lagers 80 Jahre her.

Nie wieder Auschwitz. Nie wieder Auschwitz.